23.09.2025
Bemerkungen des Generalsekretärs vor der Generalversammlung anlässlich des 80-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen
Exzellenzen, verehrte Delegierte, geschätzte Kolleginnen und Kollegen,
anlässlich des 80. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen lade ich Sie ein, mit mir für einen Moment an den Anfang unserer gemeinsamen Geschichte zurückzukehren.
Als die Organisation erstmals ihre Tore öffnete, trugen viele ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch sichtbare Spuren des Krieges – ein Hinken, eine Narbe, eine Brandwunde. Einer von ihnen war Major Brian Urquhart, der zweite Mitarbeiter, der in den Dienst der Vereinten Nationen trat. Als britischer Soldat des Zweiten Weltkriegs war er schwer verletzt worden, als ein Schiff im Ärmelkanal explodierte. Er hatte die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen miterlebt und trug sein Leben lang eine Gehbehinderung – die Folge eines Fallschirms, der sich nicht öffnete. Er war kein Einzelfall.
Ein Sachbearbeiter erwähnte beiläufig eine Schusswunde. Ein Delegierter trug Splitter eines Granatsplitters in seiner Brust. Diese Menschen hatten die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte gesehen – die Gräuel der Konzentrationslager, die Brutalität des Krieges, ganze Städte, die dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Gerade deshalb entschieden sie sich bewusst für den Dienst an der Sache des Friedens.
Exzellenzen,
es hält sich hartnäckig der Mythos, Frieden sei naiv.
Dass Gerechtigkeit bloß sentimentale Theorie sei.
Dass „echte“ Politik einzig durch Machtinteressen definiert werde.
Doch jene frühen Mitarbeitenden waren keine Idealisten, die der Realität fernstanden. Sie kannten den Krieg. Und sie wussten:
Frieden ist das Mutigste, das Praktischste und das Notwendigste, was wir anstreben können.
Mit der Gründung der Vereinten Nationen schufen sie etwas Außergewöhnliches:
Einen Ort, an dem alle Nationen – große wie kleine – zusammenkommen können, um die Herausforderungen zu bewältigen, die kein Staat allein lösen kann. Und doch erleben wir heute eine Zeit, in der die Grundprinzipien der Vereinten Nationen wie selten zuvor infrage gestellt und verletzt werden.
Während wir hier zusammenkommen, werden Zivilisten in Gaza, in der Ukraine, im Sudan und an anderen Orten gezielt angegriffen. Wird das Völkerrecht mit Füßen getreten. Gleichzeitig nehmen Armut und Hunger zu, während der Fortschritt bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung ins Stocken geraten ist.
Und unser Planet brennt – buchstäblich – unter den Folgen der Klimaerhitzung: Feuer, Fluten und Rekordtemperaturen zeigen die Dringlichkeit der Lage. Wir bewegen uns zudem auf eine multipolare Weltordnung zu. Doch ohne starke multilaterale Institutionen birgt diese Multipolarität erhebliche Risiken – wie Europa im Ersten Weltkrieg schmerzlich erfahren musste.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen wir die Vereinten Nationen nicht nur verteidigen – wir müssen sie erneuern und stärken.
Dafür stehen die Agenda 2030, der Pakt für die Zukunft und die Initiative UN80.
Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: Die Grundlagen internationaler Zusammenarbeit zu festigen und sicherzustellen, dass wir weltweit für die Menschen Ergebnisse liefern können.
Exzellenzen,
in den vergangenen acht Jahrzehnten haben die Vereinten Nationen einige der bedeutendsten Errungenschaften der Menschheit begleitet:
Die Ausrottung der Pocken.
Die Heilung der Ozonschicht.
Und – vielleicht am bedeutendsten – die Verhinderung eines Dritten Weltkriegs.
Die Prüfungen der kommenden 80 Jahre werden sowohl bekannte als auch neue Gesichter haben:
Der Kampf gegen Krieg und Armut wird weitergehen.
Aber auch neue Herausforderungen treten hervor:
Klimachaos, unkontrollierte Technologien, die Militarisierung des Weltraums – und Krisen, die wir heute noch nicht einmal erahnen können.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen wir uns daran erinnern, was unsere Gründerväter und -mütter wussten:
Der einzige Weg nach vorn ist der gemeinsame.
Lasst uns dieser Stunde mit Klarheit, Mut und Entschlossenheit begegnen.
Und lasst uns gemeinsam das Versprechen des Friedens verwirklichen.
Ich danke Ihnen.
António Guterres
Foto: United Nations